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Warum an die Grenzen stoßen, auch glücklich macht

Warum an die Grenzen stoßen, auch glücklich macht

Es ist früh am Morgen, die Sonne ist noch nicht aufgegangen und es ist bitterkalt. Ich befinde mich in Nepal, auf knapp 5.000 Metern Höhe und stehe langsam auf. Mir ist kalt, denn die Lodges in denen wir schlafen, sind eher ein Konstrukt aus Holzplatten und undichten Plastikscheiben, welche als Fenster dienen sollen. Wir gehen zur Wasserquelle der Unterkunft, einem Eimer mit Wasser. Das Wasser ist gefroren und wir müssen es erst aufschlagen. Eine große Herausforderung mit eisigen Händen, Kopfschmerzen und einer grabenden Müdigkeit. Wir putzen die Zähne, schieben uns schnell ein fettiges Tibet-Brot in den Mund, füllen unsere Thermoskannen auf und los geht’s.

Ziel des Tages soll der 5.360 Meter hohe Pass „Renjo La“ sein und wir bemerken bereits nach wenigen Minuten, dass dies ein harter Tag wird. Wir schnallen unsere Kopflampen auf, mummeln uns ein und gehen hinaus in die Kälte. Die Lichstimmung vor Sonnenaufgang lässt bereits die mächtigen Bergspitzen des Himalayas vermuten. Wir gehen und gehen – bergauf. Das Atmen fällt schwer, der Hals ist kalt, der Mund trocken. Schritt für Schritt kämpfen wir uns durch die Nacht und denken nach jeder kurzen Pause: „Das können wir nicht schaffen“. 

Die Sonne geht langsam auf, taucht die Landschaft in ein helles, goldenes Licht. Die warme Sonne berührt endlich unsere Nasenspitzen und Hände. Es fühlt sich gut an. Wie ein warmer Kakao und eine Decke an einem kalten Herbsttag. Die Motivation ist wieder da und auch der Weg geht endlich ein Stück gerade. Endlich sehen wir unser Ziel, unseren Endgegner – den Pass. Er sieht gar nicht so hoch aus, recht einfach sogar. Ein paar Stufen, einige steile Passagen. Wir sind uns sicher, dass wir das schaffen können. Nach einer letzten größeren Pause mit Snack und Hinsetzen wollen wir den Pass angehen und ihn knacken. 

Die ersten Meter an der steilen Wand lassen uns schnell spüren: „Das wird scheiße, das wird so richtig scheiße.“ Unsere Träger huschen an uns vorbei, immer mit einem Lächeln im Gesicht. Doch auch sie haben nun zu Kämpfen. Unmenschlich und überwältigend, was diese beiden, kleinen Menschen in den 3 Wochen für uns geleistet haben. Wir gehen und gehen, steigen auf. Das Atmen fällt unfassbar schwer, das Herz pocht wie ein Vorschlaghammer und der Kopf dröhnt. „Was tun wir hier eigentlich?“ Immer wieder wird mir schwummerig und ich muss kurze Pausen einlegen. Aber bl0ß nicht zu lange, denn sonst sind die Muskeln wieder kalt und das Laufen fällt noch schwerer. 

Weiter und weiter, mein Kopf spielt mir einen Streich, alles dreht sich. Meine Beine können und wollen, aber mein Kopf macht, was er will. Es puckert so sehr, dass ich mich kaum auf den Weg konzentrieren kann. Weiter und weiter. „Ich kann nicht mehr“. Höher, immer höher. „Ich glaube, ich muss mich jetzt einfach hierhin legen.“ Schritt für Schritt. Uns kommen absteigende Wanderer entgegen. Ich sehe ihre Gesichter nur noch leicht verschwommen. Sie sehen fröhlich aus, kaputt und stolz. Sie motivieren uns weiter zu gehen, denn das Ziel soll ganz nah sein. Im Hintergrund sehe ich, wie meine Mutter sich auf einem Felsen fallen lässt. Sie kann nicht mehr. Ihr Kreislauf hat versagt. Ich mache mir unendliche Sorgen, aber unser Guide hat die Situation unter Kontrolle und bittet uns weiter zu gehen. Wir gehen weiter. Immer höher. Mein Freund sagt mir: „Linda, ich sehe den Pass, ich sehe die Gebetsfahnen, wir sind gleich oben.“ Ich wage einen Blick in die Luft und sehe es nun auch. Das Ziel? Den Pass. Ich sehe einen unserer Träger. Er lächelt uns an. Und nun passiert, was passieren musste. Ich bekomme so etwas wie einen Adrenalinstoß. Mein Körper verspürt plötzlich keine Schmerzen mehr, ich zittere, habe Kraft, ich hake meinen Freund ein und verspüre wie ein riesiger Kloß meinen Hals hinauf steigt. Mein Herz schlägt immer schneller, Tränen steigen mir in die Augen und ich bekomme einen hysterischen Lachanfall. Wir sind oben.

Wir haben es geschafft. Auch meine Eltern kommen nach uns hinauf und wir können uns nur in die Arme fallen und weinen. So fühlt es sich an, wenn man vor Glück und Stolz platzt. Ich weiß nicht wohin mit meinen Gefühlen. Ich könnte schreien. Ich sehe den Mount Everest und kann es einfach nicht fassen. Dieser mächtige Berg schaut uns an, freudestrahlend und umgeben von ein paar wenigen Wolken. Die Landschaft ist gigantisch und seltsamerweise wenig bedrohlich. Einfach nur unfassbar schön. Wir genießen die Zeit dort oben, bis wir langsam absteigen und nach und nach realisieren, was gerade passiert ist.

Ängste überwinden, Glück finden

An diesem Tag haben wir alle eine Grenzerfahrung gemacht. Sie hat uns gezeigt, wozu wir fähig sind, wenn wir nur wollen. Im Nachhinein betrachtet, kann ich absolut nicht mehr nachempfinden, wie schmerzhaft der Aufstieg war und wie sehr ich einfach nur hinschmeißen wollte. Ich verspüre nur unendlich viel Dankbarkeit und Stolz. Dieser Moment wird mich mein Leben lang begleiten und mir immer wieder zeigen, dass ich alles schaffen kann. Auch in den schlimmsten Situationen, kann eine Grenzerfahrung einen anderen Menschen aus uns machen. Es geht nicht darum irgendjemanden etwas zu beweisen. Es geht nur darum, seinen eigenen Schweinehund zu besiegen und fest an sich zu glauben. Das Produkt aus dieser Angst ist vor allem die Erkenntnis, dass wir zu mehr fähig sind, als wir denken und genau deshalb, ist das Überwinden der eigenen Ängste das größte Glück, was man empfinden kann.



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